Als ich 1975 von einer einjährigen Afrikareise zurückkam, gab es an der Uni Nürnberg ein neues Institut, das von Professor Hanns-Albert Steger: Soziologe, Romanist und Wegbereiter einer neuen Lateinamerikaforschung (grad erschienen war von ihm Fischer-Länderkunde Lateinamerika). Reichhaltige Kenntnis der europäischen Geistesgeschichte, grosse Weltoffenheit und Nähe zu den aktuellsten sozialen Themen Lateinamerikas. Die Mitarbeiter kamen vorwiegend aus den betreffenden Ländern. Steger ist jetzt 86 und ebnet der Jugend immer noch die Wege in die Forschung. In jüngerer Vergangenheit lernte ich weitere Seiten von ihm kennen, erfuhr von seiner Freundschaft zu Octavio Paz, von seinem sechsundfünfzigsten Besuch in Mexiko, bei dem er berufen ist, die neue mexikanische Verfassung mit auszuarbeiten (nachdem er in der Vergangenheit das Hochschulwesen dieses Landes mitgestaltet hat) oder von der weiteren Neuauflage seiner Dissertation aus dem Jahr 1954. Diese Arbeit, vorwiegend in Aix en Provence entstanden, könnte auch auf neue Aspekte der Musica Popular zeigen.
Askese und Amour Courtois schließt die lyrische Dichtung aus dem Südfrankreich auf, das im 12. und 13. Jahrhundert ein kultureller Knotenpunkt ist. Es wird deutlich, dass das Europa von heute ein anderes Gesicht hätte haben können, wäre dort eine besondere Kultur nicht ausgelöscht worden. Es sollte nun interessant sein zu wissen, welche Anteile davon in die europäisch geprägte Kultur des neuen Kontinents eingeflossen sind. Die uns so vertraute und doch fremde Gleichzeitigkeit von Sinnlichkeit und Spiritualität in den Texten der Musica Popular lohnt sich, immer wieder neu zu betrachten.
Ein weiterer Literaturhinweis: Stegers erster längerer Aufenthalt in Brasilien war anfang der 60er, er reiste zusammen mit dem Soziologen Helmut Schelsky. Schelskys Sohn Detlev schrieb dann in den 80ern bei Steger ein Dissertation über die Musica Popular Brasileiro, vor allem über die aus dem Nordosten zugewanderten Elemente. Kultur auf Wanderschaft ist ein reichhaltiges Zeugnis über die verschiedenen Wellen, in denen die Musica Nordestina im 20. Jahrhundert in den Städten des Südostens zunächst jeweils Ablehnung und dann Anerkennung und Aufnahme erfährt. Ein Schwerpunkt liegt auf den 60ern und 70ern, mit der Besonderheit Tropicalismo, aber auch der Aufwertung der Musik des Nordostens zur gesamtbrasilianischen Musik. Beachtung findet der Forró als neues städtisches Phänomen des Südostens mit der Musik des Luis Gonzaga in den 40ern. Und man erfährt etwas über die Vorformen der Musica Popualar aus der Zeit des Choro. Die stark afrikanisch geprägte Region Bahia, wichtig für die Musica Popular, ist ausgespart. Der Blick richtet sich auf den Nordosten und die Städte des Südostens.
Nun ist interessant zu fragen: Was ist die Besonderheit einer ausgewanderten europäischen Kultur? Schelsky spricht am Schluss seiner Arbeit von einer anderen, einer zirkulären Zeitvorstellung. Das uns eigene, lineare Zeitbild, das auf das bessere Morgen zusteuert, unterscheidet sich wesentlich von einem, das räumlich-zeitlich im Jetzt verankert ist. Der zweite Aspekt war oben genannt, die Gleichzeitigkeit von Sinnlichkeit und Spiritualität. Das Geistige findet sich in der Verehrung der Schönheit des Mitmenschen und des Ortes. Drittens lässt sich unterscheiden zwischen einem eher analytischen und einem der Ganzheit gewidmetem Denken, einem, das dem Prozess des künstlerischen Schaffens nahe steht. Schelsky zitiert im Vorspann Roger Bastide (französischer Soziologe, rund 20 Jahre als Professor in São Paulo): O sociólogo que quiser compreender o Brasil, não raro precisa transformar-se em poeta. (Der Soziologe, der Brasilien verstehen will, muss sich nicht selten in einen Dichter verwandeln.)