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Brasilianische Musik 20. Jahrhundert

Tropicália, Tom Zé

Wenn man Grande Sertão von Guimarães Rosa liest, stösst man auf ein anderes Portugiesisch, zu ahnen sogar noch in der deutschen Übersetzung. Tom Zé sagt, er habe als Kind, im Laden seines Vaters, diese nicht indogermanische Sprache (so nennt er es wegen der arabischen und keltischen Einflüsse), dieses Portugiesisch aus dem 16. Jahrhundert, erlernt, mitgebracht von den Familien, die aus dem Hinterland zum Einkauf in die Kleinstadt Irará (Region Bahia) kamen. Er sei quasi im Mittelalter aufgewachsen, ohne Fernseher, ohne Motor, bis auf den Bus, der nach Salvador fuhr.  Der erste, wenn auch positive, Schock kam mit acht Jahren, mit dem Erlernen von Schreiben und Lesen. Den geschlossenen Kreis des Lebens, alles was man auf der Erde braucht, die Mythen, die sozialen Beziehungen, Mataphysik und Philosophie, lernte er vorher kennen. Ich war gewohnt, die Informationen über den Klang, das Sehen, das Berühren, den Geschmack oder den Geruch kennen zu lernen, aber dass so eine präzise Information über visuelle Zeichen möglich war, erschreckte mich sehr. (p.108; aus dem Gespräch mit Violeta Weinschelbaum, Oktober 2003 in São Paulo)

Die zweite Erschütterung kam mit sechzehn. Er war im Park mit Freundinnen verabredet, sein Freund kam, ungelegen, vorbei und trug ihm ein Lied vor. Die kontrapunktische Begleitung mit der Gitarre, ein Vorgang, den er erst zehn Jahre später, beim Musikstudium in Salvador genauer begriff, überraschte ihn so, dass sich damit die Welt der Musik für ihn öffnete. Es war, als käme eine Stimme aus der Gitarre und die andere aus der Kehle. Ich hörte stereofonisch, mit dem Ohr eines Kindes, ganz perfekt, in einer stillen Stadt ohne MotorAls Renato dies sang, vergaß ich total die Mädels und entwickelte eine Leidenschaft für diesen Kontrapunkt der ersten Stufe, die Welt drehte sich vor meinen Augen. (p.112) Weitere Einschläge waren Beethoven, Sacre du printemps von Stravinsky und Rock around the Clock von Bill Haley. Jedes mal eine Erschütterung des Weltgefüges für das offene Ohr aus dem Sertão.

1961, mit 25 Jahren, geht er an das Konservatorium nach Salvador, erhält kleinere Kompositionsaufträge, bekommt ein Stipendium. Also studierte ich fünf Jahre an der besten Musikschule der Welt; ich hatte das Privileg, als „Analphabet“, an einer herrlichen Schule mit den besten Lehrern der Welt zu studieren. Das war der wirkliche Beginn meiner Beziehung zur Musik. (p.112) Er hat in der Zeit wenig Berührung mit der Musica Popular. Ein Schwerpunkt des Studiums sind Postmoderne, Wiener Schule, Zwölftonmusik, Serielle Musik, Elektroakustik.

Der Wechsel nach São Paulo kommt, als er von Maria Bethania und Ceatano Veloso gebeten wird, an einer Tournee teilzunehem. Caetano sagt, in in Bahia stagniere er. Nach São Paulo zu gehen hatte er nie geplant. Ich wollte nicht einmal nach Salvador gehen, dachte, wenn mein Studium zu Ende ist gehe ich wieder nach Hause, Salvador war für mich die Verirrung, die Traurigkeit, die Anhäufung des Übels, die Einengung. (p.114) Tom Zé wurde, besonders in den Anfangsjahren,  zum wichtigen Generator des Tropicalismo, trug dazu bei, dass man sich vom Bossa Nova entfernte. Aber vielleicht war er zu besonders, Caetano und Gil gingen eigene Wege.  Am fünften Jahrestag des Tropicalismo war mein Bild überall, am zehnten war es fast nirgends, und als sie den fünfzehnten Jahrestag feierten, existierte ich nicht mehr. (p.116)

Von Kritikern auch der Satie des Sertão genannt, nimmt er 1976 seine Platte Estudando o Samba auf, zieht sich dann aber in seinen kleinen Heimatort zurück. Zehn Jahre später wird dieses Album von David Byrne entdeckt, es wird weltweit bekannt und erfolgreich. Tom Zé hat grosse Sympathien für das avantgardistische Theater des Zé Celso, steht auch dem Modernen Ballett der Grupo Corpo nahe. Von dieser international gefeierten Gruppe wurde er in den vergangenen Jahren immer wieder beauftragt, Tanzmusiken zu schreiben.

Auf den Satz von Zé Celso angesprochen, der Tropicalismo sei die Kultur der Dekolonisation gewesen, bemerkt Tom Zé, dass die unruhige Zeit der Endsechziger Brasilien sehr verändert habe. Zwischen dem bewusstlosen Argumentieren der Parteien, den Forderungen nach Hochindustrialisierung und Zurück zum Bauerntum habe der Tropicalismus kulturelle Nahrung geliefert. In diesem Punkt glaube ich, wenn es den Tropicalismo nicht gegeben hätte, wäre die Industrie, die komplette Physionomie Brasiliens völlig anders. Wenn der Tropicalismo nicht gewesen wäre, hätte uns die Diktatur ausgelöscht. (p.117)